Der erste Teil dieser Serie, beschreibt den Anfang dieser Zeit, als es zunächst nur um Schulterschmerzen ging. In den weiteren Beiträgen beschreibe ich den Ablauf von diesem Moment an. Im elften Teil geht es um den ersten richtigen Aufwärtstrend, das erste Mal außerhalb des Krankenhauses. Meines Erachtens passt jetzt mal das Eingehen auf die Fachbegriffe, die in diesem Zusammenhang zuhauf anfielen.
Ich bin medizinischer Laie. Ich kannte keine Fachbegriffe, ich wusste weder was ein Osteoblastom ist, ich hatte nur eine vage Ahnung, dass maligner Tumor wohl bösartig heißt. Ich wusste nicht was ein Halo ist, nicht wie sowas aussieht. Mir war völlig neu, dass man einfach Schrauben in den Kopf drehen kann. Auch von Operationen wusste ich viel weniger, als nötig war, was da warum, in welcher Reihenfolge wie gemacht wird. Noch viel weniger wusste ich vorher, was Onkologie ist, dass ein Kernspin und ein MRT dasselbe ist. Mir war nicht klar, wieviele Untersuchungen vor geplanten Operationen nötig sind, aus eigener Erfahrung kannte ich nur Notoperationen, bei denen höchstens Stunden blieben, um zu untersuchen.
Ich war nicht darauf gefasst, dass es vom ersten Kliniktag am 27. Juli bis zur Operation noch bis zum 13. August dauern würde, obwohl klar war es ist sehr dringend. Noch weniger war ich darauf gefasst, dass es danach nochmal rund zwei Wochen dauern würde, bis erkennbar ist, welche Einschränkungen voraussichtlich bleiben und welche behoben werden konnten.
Mir war zunächst nicht klar, dass die Nachricht nicht bösartig keinesfalls bedeutet, dass mein Kind das Ganze überlebt. Verstanden habe ich dann so einen Satz, wie: „der Tumor muss vom Rückenmark abgekratzt werden, falls noch genug Rückenmark da ist, kann das klappen. Wenn das Rückenmark an der Halswirbelsäule durchtrennt wird, kann es nicht repariert werden und damit wäre anschließend nicht einmal mehr selbstständige Atmung möglich, Bewegung sowieso nicht.“
Jeder Bericht in schriftlicher Form las sich erstmal nicht so schlimm, denn in dem Wust von Fachwörtern, war mir meist nicht klar, welche Konsequenz das hat. Die Beurteilung vorab als Auszug aus dem OP-Bericht:
Diagnose
- „Muskelatrophie im Bereich des rechten Schultergürtels
- Kopfneigung nach rechts
- grobe Kraft der rechten Hand vermindert
- Sensibilitätsstörungen im Bereich des rechten Arms und Überempfindlichkeit
Die bildgebende Diagnostik wies nach:
- Raumforderung im Bereich HWK 6 rechtslateralisiert
- mit Osteolyse des rechten Halbbogens und des Gelenks und teils des Corpus
- nach Biopsie Osteoblastom
- Ziel radikale Entfernung des Tumors“
Klar, für Ärzte und Fachpersonal sagt die Diagnose wohl alles. Für mich steht da nicht, was das Ganze bedeutete. Eine noch ausführlichere Diagnose mit allen Untersuchungsergebnissen gab es von der Kinderstation. Da steht alles von der Vorgeschichte (Annamnese) über den Befund: „9 Jahre alter Junge in gutem Allgemeinzustand 34,4 kg 139 cm usw.“ Bis hin zu: „Restliche neurologische Untersuchung orientierend unauffällig.“ Kurz zusammengefasst: Der Junge war abgesehen von dem Tumor ein kerngesundes Kind.
Ich werde hier nicht jeden Begriff erklären und verlinken. Ich hatte damals die Erklärung, trotzdem schlug ich später nochmal in Ruhe alle Begriffe in meinen Medizinlexika nach. Manches hatte ich jetzt nach zehn Jahren nicht mehr parat und bemühte eine Suchmaschine, das geht natürlich bedeutend schneller, als damals mit Büchern. Mir geht es hier jedoch nicht so sehr um die Erklärung jedes einzelnen Begriffs, sondern mehr darum zu erzählen, wie wenig der Konsequenzen in solchen Diagnosen und Berichten tatsächlich für Laien verständlich steckt.
Erste Operation
Weitere Auszüge aus dem Bericht:
- „OP in Bauchlage
- Entfernung von Tumorgewebe
- distal bis HWK 7
- proximal bis HWK 4
- Entfernung des Tumors im Bereich des Gelenks HW 6/7
- Tumor der sich um die Nervenwurzeln C7.C6 und C5 ausdehnt wird entfernt
- weitere Entfernung in dieser Position nicht möglich“
Der Tumor reichte vom vierten bis zum siebten Halswirbel. Soweit in dieser Position möglich wurde der Tumor entfernt.
- „großen Knochenspan im Beckenkamm entfernt
- das Peritoneum geht dabei leicht auf und wird sorgfältig zugenäht
- Teil des Beckenkammdübels wird zwischen HWK 3 und HWK 7 eingepasst„
Der Tumor hat quasi die Wirbel aufgefressen, deshalb mussten diese nach Entfernung nachgebildet werden. Die sicherste Version ist dafür eigene Knochen zu verwenden. Aus dem Beckenknochen werden die Wirbel nachgebildet, das Bauchfell wurde beschädigt und wieder vernäht.
Zweite Operation
Da nicht alle Stellen in Bauchlage erreicht werden konnten, wurde die zweite OP durchgeführt
- „OP in Rückenlage
- nach röntgenologischer Höhenkontrolle Hautschnitt am Hals
- Disektomie von C5/6 und C6/7
- Korporektomie von HWK 6
- Einpassen des restlichen Beckenkammspans zwischen HWK 5 und HWK 7
- ventrale Fusion mittels Titanplatte zwischen HWK 5 und HWK 7
- wobei an HWK 5 nur eine Schraube geschraubt werden kann
- in HWK 7 werden zwei Schrauben gesetzt
- im Dübel wird keine Schraube belassen“
Der Hautschnitt ergab eine Narbe, die etwa aussieht wie in alten Western von denen, die erhängt werden sollten. Disektomie ist die Entfernung einer Bandscheibe. Korporektomie nennt man die Entfernung von Wirbeln. Bei dieser OP wurden nicht nur die Knochenteile aus dem Becken eingesetzt, sie mussten mit Schrauben und einer Titanplatte gesichert und befestigt werden.
Dritter Eingriff
- „Anlegen des Halo-Fixateurs“
Mehr zum Halo-Fixateur siehe Artikel zum Operationstag und zum Bericht über die ersten Tage danach.
Diagnose
„Osteoblastom ausgehend von HWK 6 mit ausgedehntem extra- und intraspinalem Anteil„
Dieses im Bericht Tumor genannte Ding hatte nur den einen Vorzug, es war nicht bösartig. Deshalb ist es laut Wikipedia genau genommen kein Krebs. Allerdings bleibt es ein Tumor und anfangs wusste ja niemand, ob es „nur“ ein Tumor oder Krebs ist. Dass das nicht unbedingt nur Vorteile hatte habe ich ja im Beitrag zu den Untersuchungsergebnissen bereits beschrieben.
Therapie
„Weitgehend radikale Entfernung des Tumors mit posterioser Stabilisation mittels Beckenspan und und ventraler Stabilisierung mittels Beckenkammspan und Verplattung. Zusätzliche Fixierung mittels Halo-Fixateur.“
Aus meiner Sicht
Auch dieser Satz klingt meines Erachtens fast schon harmlos. Ich hatte bei all diesen Begriffen den Vorzug, dass es im Zusammenhang mit der Erkrankung meines Sohnes in Freiburg und an der Kinderklinik in Konstanz nur exzellente Ärzte gab. Mit einer Engelsgeduld (die braucht man bei mir, ich frage solange, bis ich wirklich alles verstanden habe) erklärten mir die Ärzte jeden Begriff. Die Chirurgin nahm sich vor und nach der Operation und bei allen späteren Untersuchung immer die Zeit mir alles in Ruhe zu erklären.
Einen so offenen und klaren Umgang wie damals kannte ich aus früheren Zeiten in anderen Situationen nicht. Mein Eindruck war sehr gut, was die Informationen, Erklärungen und auch die Fachkompetenz aller genannten Beteiligten anging. Sehr angenehm fiel mir auch der Umgang mit meinem Sohn auf.
In Konstanz kannte ich bis dahin nur einen Kinderarzt, der ähnlich handelte (quai der Haus-Kinderarzt, falls kein Spezialist oder ein Vertreter nötig waren). Er sprach ebenfalls immer zuerst das Kind an und erklärte ihm, was er vorhatte. Ich war immer erst die zweite, die er begrüßte, der er etwas erklärte. Alle anderen Ärzte, bei denen ich bis dahin war, begrüßten erst mich, erklärten mir was sie dachten, fragten mich, warum ich mit dem Kind gekommen war usw. Sie ignorierten schon fast, den eigentlichen Patienten, das Kind, um das es ging.
Selbst in der Zeit in und um Freiburg, also allem was da so rundum den Tumor war, fiel es mir häufig positiv auf, wie klar alle Personen des Fachpersonals sich zuerst um den Jungen kümmerten. Sehr angenehm war auch der offene Umgang mit allen Untersuchungen und Diagnosen. Soweit es für ein Kind in diesem Alter irgend zumutbar war, wurde er in alle Gespräche miteinbezogen. Jede seiner Fragen wurde ehrlich und kindgerecht beantwortet.
Solltest du das jetzt lesen, weil du einer ähnlichen Situation bist, dann wünsche ich dir, genau dieses Personal. Es gibt so vieles in diesen Zeiten, was alle Energie und Kraft kostet. Ich habe es genossen, dass ich nicht um Informationen und einen offenen Umgang kämpfen musste.
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